Meine Religion
Michael A. Schmiedel

geschrieben 4-2001, leicht gekürzt 2006

Kurze Vorbemerkung, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen:
Die folgende Beschreibung meiner Religion ist kein religionswissenschaftlicher Text, sondern ein ganz persönlicher. Der jeweils eigene religiöse Glaube ist für Religionswissenschaftler(innen) reine Privatsache und hat mit der wissenschaftlichen Tätigkeit per Definitionem des Faches nichts zu tun. Gleichwohl ist die hier vorliegende Weise der Analyse meines Glaubens religionswissenschaftlich beeinflusst und mein Glaube selber auch durch die Kenntnisse der Religionen, die ich durch die Ausübung meines Faches erwarb.

Oft werde ich gefragt, was denn meine Religion sei. Zum Einen fragen mich das Gesprächspartner, die selber einen erkennbaren religiösen Standpunkt haben und nun auch meinen kennen wollen, zum Anderen solche Mitmenschen, die mich als Religionswissenschaftler kennen, der über Religionen forscht, liest, spricht und schreibt und seine eigene Religion dabei außen vor lässt, und nicht zuletzt fragen mich dies Menschen, die sehen, wie weit ich mich vom Christentum entferne, das sie doch als meine angestammte Religion ansehen.

Nun, ich bin tatsächlich Christ, in dem Sinne, dass ich Mitglied der römisch-katholischen Kirche bin, als Säugling getauft wurde, auch im weiteren Leben eine christliche, katholische Sozialisation erfahren habe, Kirchensteuern zahle und nun sogar Fundamentaltheologie im Nebenfach studiert habe. Formal bin ich also Christ, genauer Katholik. Formal könnte man mich auch als Buddhisten anspreche, insofern ich Mitglied der Buddhistischen Gemeinschaft in der Deutschen Buddhistischen Union bin und dort einen Jahresbeitrag zahle. Formal bin ich also Mitglied in zwei verschiedenen Religionsgemeinschaften.

Diese formalen Kriterien genügen aber nicht, meine Religion zu bestimmen, denn Religion ist eine sehr innerliche Angelegenheit, die sich erst im zweiten Schritt nach außen zeigt. Dieser inneren Angelegenheit gehen selbstverständlich von außen kommende Einflüsse mannigfacher Art voraus, aber eben mannigfacher Art, die erst in meinem Inneren, in meinem Denken und Fühlen zu meiner Religion werden, die dann nicht identisch ist mit der Religion eines anderen Menschen, wenn es auch zahlreiche ähnliche Religionen bei anderen Menschen gibt, denn wir leben ja in einem ständigen, heutzutage gar globalen, Austausch.

Wenn ich meine Religion nun dingfest machen will, dann muss ich darüber nachdenken, welche Einflüsse denn am stärksten in mir wirken. So bin ich auf vier Haupteinflüsse gestoßen:

Theismus, Agnostizismus, Buddhismus und Humanismus.

Was ich darunter verstehe und wie sie sich bei mir auswirken, möchte ich kurz darlegen:

 

Theismus

Ich glaube an Gott. Beim Denken des Wortes „Gott" und bei der Vorstellung von Gott kann es passieren, dass mir Tränen in die Augen treten. Gott, das ist Weite, Unermesslichkeit, Tiefe, Höhe, Liebe und Geborgenheit, aber auch Kraft und Herausforderung. Gott, das ist ein Geheimnis, es ist DAS Geheimnis des Daseins. Gott, das ist ein Gefühl, ein Gefühl von eben genannten Qualitäten. Ich fühle Gott. Ich fühle Gott, wenn ich durch den Wald gehe, wenn ich in den Wolken- oder Sternenhimmel blicke. Ich fühle Gott, wenn ich in das Gesicht eines Menschen sehe. Ich fühle Gott, wenn ich Menschen, gleich welcher Religion, beten sehe. Ich fühle Gott, wenn ich ruhig dasitze und auf meinen Atem achte. Bisweilen fühle ich Gott auch als Götter und Göttinnen, als vorübergehend individualisierte Aspekte des All- Einen. Ich bete zu Gott und fühle Ihn als zuhörendes und antwortendes Gegenüber. Ich fühle Gott als die Einheit aller Gegensätze, als die grundlegendste Essenz alles Seins, als das Sein selbst.

Weiter möchte ich es nicht spezifizieren. Poly-, Mono-, Pan- oder Panentheismus und auch Atheismus oder auch konkrete Vorstellungen von Personalität oder Apersonalität oder gar des Geschlechts erscheinen mir als Kopfgeburten, als stammelnde Versuche, sich gedanklich und begrifflich dem Geheimnis zu nähern und es sich habhaft zu machen. Sicher kommen dabei auch wertvolle Gedanken heraus, aber eben Gedanken, nicht mehr und nicht weniger. Am ehesten könnte ich meinen Theismus noch als mystisch spezifizieren. Im Gebet benutze ich übrigens viel häufiger die Ansprache „Großer Geist" als „Gott", da „Gott" mir in gewisser Hinsicht zu anthropomorph vorkommt.

Ich fühle Gott...

Agnostizismus

...aber ich weiß nichts von Ihm. Was ist Wissen? Nicht mal das weiß ich.

Ich weiß, dass Gott Dreieiner ist. Ich weiß, dass Gott in Jesus Mensch wurde, geboren von der Jungfrau Maria usw.. Das habe ich so gelernt, das weiß ich. Man könnte es mich abfragen, ich würde eine gute Note bekommen. Aber ich weiß nicht, ob es stimmt, was ich da gelernt habe. Ich weiß, dass viele Menschen von den Glaubensinhalten ihrer Religionen sehr überzeugt sind, und auf diese Weise Dinge wissen, die sich vom Wissen anderer Menschen unterscheiden, wörtlich genommen ihnen gar widersprechen.

Ich weiß, dass die Erde eine Kugel ist, zumindest annähernd, mit abgeflachten Polen eben. Ich habe es aber nicht selbst ausgerechnet, kann es aber gut nachvollziehen, denn warum sollte ich von Frankfurt nach Los Angeles sonst über Grönland geflogen sein? Auf der flachen Erdkarte im Atlas ist das ein Umweg, auf dem Globus aber die kürzeste Strecke. Wenn ich also darauf vertraue, dass die Lufthansa ihre Flugzeuge in der Regel keine spritkostenden Umwege schickt, dann muss da wohl was dran sein, an der Lehre, dass die Erde rund ist.

I ch habe schon Elfen gesehen, richtig in der Natur, nicht nur in Fantasyfilmen. Okay, ich weiß, dass es keine Elfen waren, sondern Mücken, die im Abendlicht ihren Paarungstanz aufführten oder Glühwürmchen im nächtlichen Wald. Aber woher weiß ich, dass es keine Elfen waren?

Ich weiß auch, dass man sich viele Dinge selbst im Gehirn konstruiert, sie nach außen projiziert und dann glaubt, sie einfach so wahrzunehmen. So nehme ich das Lächeln eines Hundes wahr, der mich freundlich ansieht. Hunde lächeln aber gar nicht, sondern gucken einfach so, wenn sie ganz normal gucken. Einige Hunde gucken mürrisch, ohne mürrisch zu sein. Ich übertrage einfach von Menschen gewohnte Gesichtsausdrücke auf Hunde. Dass Hunde ihre Stimmungen mit der Rute, dem Schwanz ausdrücken, musste ich erst lernen, als Fremdsprache gewissermaßen. Auch begrüße ich mein Auto und empfinde das Brummen der Zentralverriegelung als Begrüßungston des Autos. Und sicher projiziere ich vieles in jenen alle sinnliche Empirie übersteigenden Bereich, die Transzendenz, in dem Gott sich zeigt.

Ich habe gelernt, dass all unser Wissen eine Mischung aus Rezeption, Konstruktion und Projektion ist. Wissen können wir etwas immer nur im Rahmen gesetzter Vorgaben. Je mehr Axiome wir hinterfragen, desto unsicherer wird uns unser Wissen. Das führte zu den Erkenntnissen „All unser Wissen ist Stückwerk" und „Ich weiß, dass ich nichts weiß", die ich in voller Überzeugung unterschreiben kann.

Wir wissen immer nur etwas im Kontext unserer Lebenswelten, im Kontext der Plausibilitätsstrukturen, in die hinein wir sozialisiert wurden und wenn es die Plausibilitätsstruktur der theoretischen Physik oder die der theologischen Dogmatik ist. Im Sinne letztgültiger Beweisbarkeit wissen wir nichts. Vieles von dem was wir wissen, hat den Charakter des Wissens der Bäume, die wissen, wann sie ihre Blätter abwerfen müssen und wann sie neue wachsen lassen dürfen. Es ist pragmatisches Wissen, das innerhalb enger Grenzen seine Gültigkeit hat. Jenseits der Grenzen ist das große Unwissen, das wie ein Loch im Netz des Wissens ist, und vor dem wir uns fürchten.

In der Wissenschaft können wir unser Denken von den konkreten Umständen unseres Lebens ein wenig unabhängig machen, aber nie vollständig. Das gleiche gilt für Mythologie, Magie, Schamanismus und auch für...

    Buddhismus

...Meditation. Der Buddha hat uns eine Reihe von Meditationstechniken übermittelt, mit deren Hilfe wir tief in unsere Bedingtheiten hineinschauen und uns von ihnen großenteils emanzipieren können. Ich übe mich in einer aus dem Buddhismus kommenden Achtsamkeitsmeditation in Form des Zazen, bisweilen auch mit einem Schuss Satipatthana oder Shamatha/Vipashyana. Darin gelingt es mir bisweilen, meine Gedanken zur Ruhe zu bringen, zu meinen angenehmen, unangenehmen und neutralen Gefühlen innerlich auf Abstand zu gehen und sie aus sicherer Distanz klar wahrzunehmen. Mehr oder weniger gut gelingt es mir auch, diese ruhige, achtsame Sichtweise im Alltagsgeschehen zu praktizieren. Das empfinde ich als sehr wohltuend, als heilsam. Es hilft mir beim Umgang mit den Problemen und Widrigkeiten des Lebens. Es gibt mir Gleichmut, Kraft und Mitgefühl.

Ich weiß nicht, ob man durch diese Meditation zur vollständigen Erlösung von dem kommen kann, was man Sünde oder Samsara nennt...


Humanismus

...und ich weiß auch gar nicht, ob ich das will. Letztlich geht mir die im Buddhismus und auch in manchen anderen Religionen gelehrte Tendenz, die Welt durch Askese überwinden oder durch Selbstaufopferung retten zu wollen, doch etwas zu weit. Auch beobachte ich, dass sie vielen überzeugten Gläubigen der Religionen zu weit geht. Die religiösen Virtuosen können zwar Vorbilder sein, inspirieren mich auch sehr, aber es ist eher so, wie Reinhold Messner mich beim Bergwandern inspirieren kann, ohne dass ich deshalb auch auf 8000er steige.

Im Projekt Weltethos ist vom Humanum die Rede, von einer menschlichen Konstante an Werten und Idealen. Ich möchte dieses Humanum als anzustrebendes Ziel gerne auf meine Fahne schreiben, doch darf man nicht vergessen, dass zum Menschlichen auch das gehört, was man oft und gerne als unmenschlich beurteilt. Kein Lebewesen der Erde ist zu solchen Grausamkeiten fähig, wie Menschen sie fertigbringen. So gehören „bestialische" Grausamkeiten auch zum Humanum, zumindest potentiell.

Ich will sagen, dass wir bei allem pädagogischen und diplomatischen Sinn, den es hat, das Gute im Menschen zu betonen, uns Menschen in unserer Realität nicht mit unseren Idealvorstellungen vom Humanum verwechseln dürfen. Ich sehe in Menschen Lebewesen, die ihr Verhalten gemäß der Maslow'schen Bedürfnispyramide ausrichten. Wenn wir berücksichtigen, dass religiöse, spirituelle, philosophische, meditative, ethische Bedürfnisse nicht eben die grundlegendsten Bedürfnisse sind, können wir uns vor übersteigerten Erwartungen und damit vor Enttäuschungen schützen. Auch ich habe sehr weltliche Bedürfnisse, die mich wirklich nicht zum Asketen machen.

So ist auch meine Ethik durch dieses Menschenbild bestimmt. Ich gönne meinen Mitmenschen, was ich mir gönne, und behandele sie so, wie ich möchte, dass sie mich behandeln. Das ist die grobe Richtung, die Details muss ich kontextabhängig erarbeiten. Ich weiß, wie schädlich Alkohol sein kann, dass sich viele Menschen durch Alkohol zugrunde richten. Ich trinke aber gerne Bier, Wein und Spirituosen, vermeide aber einen Rausch und verordne mir jedes Jahr eine mehrwöchige alkoholfreie Zeit, um keine gesundheitlichen Schäden zu nehmen. Ich weiß auch, dass es viele wichtige Probleme in der Welt gibt, für deren Lösung man sich engagieren sollte, leiste mir aber den Luxus, mir die Probleme auszusuchen, die mich persönlich interessieren, so eben das mangelhafte gegenseitige Verständnis zwischen Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen, dem ich als Religionswissenschaftler nachhelfen möchte. Auch sammele ich allerhand kleine Dinge, die zu ordnen auch Zeit, Lebenszeit kostet. Das sind alles keine Beschäftigungen, die einen Heiligen, einen Bodhisattva oder ähnliche noble Gestalt aus mir machen könnten, aber ich empfinde sie als der menschlichen Würde angemessen.

Letztlich bleibt diese Klassifizierung meiner Religion unzufriedenstellend...



Vorläufiges Fazit

...aber ich möchte sie noch mal ganz kurz zusammenfassen: Vom Gefühl her bin ich Theist, vom Intellekt her Agnostiker, von der Meditationspraxis her Buddhist und von der Ethik her Humanist. Das ist eine grobe Schubladeneinteilung, die letztlich so natürlich auch wieder nicht stimmt, denn die vier Bereiche durchdringen sich gegenseitig, und es gibt auch noch andere Einflüsse.

Ich weiß, dass dies für so manchen eine unseriöse Patchwork- (Flickenteppich-)Religion, ein Synkretismus und Eklektizismus ist, typisch für unsere pluralistische, postmoderne Gesellschaft. Ich meine aber, mit dieser Art von Religion mein Leben eigensinnig und eigenverantwortlich führen zu können. Ich suche nach der Weisheit, mit den sich dadurch ergebenden Spannungen zu leben, und bin so gesehen ein Philosoph. Wichtig ist es, die Perspektivenvielfalt wahr- und anzunehmen. Ich sehe Religion weniger als eine Frage von Standpunkt und Identität, als von Weg und Methode. Freilich muss ich aufpassen, nicht im Kreise zu gehen und mich narzistisch um mich selber zu drehen. Ich muss die Weisheit entwickeln, einerseits mir treu zu bleiben und andererseits offen für neues zu sein und den Einflüssen des Lebens in der richtigen Mischung aus Vertrauen und Kritik zu begegnen. Das ist ein lebenslanger Lernprozess, und ehe man ausgelernt hat, ist man...

Ja, wo eigentlich?

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