jüdische Religion weiblicher Aspekt Gottes Religion des IslamLehre Buddhasweitere geistige TraditionenReligion der Hindus christliche Religion Religion Zarathustras

Die Weltreligion
Hazrat Inayat Khan
(gegeben vor etwa 80 Jahren)

Es gibt viele Prophezeihungen und einige Überzeugungen über die kommende Weltreligion, aber ich möchte keine Prophezeiung zu diesem Thema machen. Ich möchte nur erklären, was Religion bedeutet. Die gegenwärtige Religion, die kommende Religion oder die vergangene Religion - das ist für diejenigen, die die eine Wahrheit in viele unterteilen. Tatsächlich ist es so - das, was war, das ist; und das, was ist, das wird sein.

Hat Jesus Christus nicht diesen Gedanken bestätigt, indem er sagte: "Ich bin nicht gekommen, um ein neues Gesetz zu geben, ich bin gekommen, das Gesetz zu erfüllen." Wenn Jesus Christus das gesagt hat, wer kann dann hervortreten und sagen: "Ich gebe euch eine neue Religion"? Es kann keine neue Religion geben. Genausogut könnte man sagen: "Ich möchte euch eine neue Weisheit lehren." Es kann keine neue Weisheit geben. Weisheit ist dieselbe - sie war und ist und wird es immer sein

Da erhebt sich eine Frage im Herzen der Nachforschenden: "Was bedeutet dann diese Vielfalt der Religionen, die die Menschheit für Jahre in Konflikte gestürzt hat, so dass die meisten Kämpfe und Kriege im Namen der Religion ausgefochten wurden?" Dies zeigt nur den kindischen Charakter der menschlichen Natur. Die Religion, die gegeben wurde und gegeben wird - wo immer sie gegeben wird, wird sie für Einheit, für Harmonie und für Bruderschaft gegeben. Doch sie wurde von der kindischen menschlichen Natur dazu benutzt, zu kämpfen, zu diskutieren und sich für viele Jahre in Kriege zu verwickeln. Am kuriosesten ist es für einen nachdenklichen Menschen, daran zu denken und zu sehen, wie Menschen in der Vergangenheit dem Krieg einen höchst heiligen Charakter gegeben und ihn "heiligen Krieg" genannt haben.

Dieselbe Tendenz, sich gegenseitig zu bekämpfen, die auf dem Gebiet der Religion begann, blieb in Zeiten des Materialismus bestehen und führte zu Krieg zwischen Nationen. Die Differenzen und Eigentümlichkeiten, die zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen und Überzeugungen bestanden, gibt es noch immer, und die Vorurteile und die Bigotterie zwischen Nationen existieren ebenfalls noch in kleinerem oder größerem Maße. Was zeigt das? Es zeigt, dass die Bedeutung der wahren Religion von den meisten Menschen nicht verstanden wurde. Die Mission, die die Religion für die Menschheit zu erfüllen hatte, bleibt daher noch zu erfüllen. Auf diese Erfüllung hat Jesus Christus hingewiesen: "Ich bin gekommen, das Gesetz zu erfüllen, nicht, um ein neues Gesetz zu geben."

Man kann Religion von fünf verschiedenen Standpunkten aus betrachten: Erstens, was uns als bestimmte Dogmen, Gesetze oder Lehren bekannt ist. Wenn wir nachdenken und die Bedingungen der Welt betrachten, dann sehen wir, dass das Gesetz nun von den Nationen gegeben wird. Jede Nation ist verantwortlich für Ordnung und Frieden des Volkes.

Der zweite Aspekt der Religion ist die Kirche und die Form des Gottesdienstes. Darin gibt es natürlich Unterschiede, und es wird sie immer geben. Es ist eine Angelegenheit der Mentalität und der Neigung, und es hängt auch von den Gebräuchen und den Überzeugungen der Menschen ab, die diese Neigung von ihren Vorfahren geerbt haben. Manche haben in ihren Gebetshäusern verschiedene Formen und Zeremonien, die ihnen helfen, sich erhoben zu fühlen; andere haben einen einfachen Gottesdienst. Dem einen gefällt das eine, dem anderen das andere.

Zweifellos entwickelt sich die Welt in Richtung Einförmigkeit. Wir sehen jetzt keine sehr großen Unterschiede zwischen Formen, verschiedenen Gebräuchen der Begegnung und Kleidung und vielen anderen Dingen. Die Menschen gelangen zu einer gewissen Uniformität. Wenn wir das Thema von einem anderen Standpunkt aus betrachten, finden wir gleichzeitig, dass Einförmigkeit sehr häufig dem Leben die Schönheit nimmt. Menschen in Ländern, die so zivilisiert und fortgeschritten sind, dass die Architektur und Häuser alle gleich aussehen, und die sich alle gleich kleiden, werden dessen so müde, dass sie in ein anderes Land fahren, um Häuser und Menschen zu sehen, die etwas Eigentümliches haben und sich voneinander unterscheiden.

Zum Beispiel ist die Methode, Musik aufzuschreiben und die Form der Notation in der westlichen Welt überall die gleiche, aber der Unterschied zwischen der Musik der Franzosen, der Italiener, der Deutschen und der Russen gibt dem Musikliebhaber einen Stimulus. Und so ist es auch mit den Unterschieden der Formen. Zu wünschen, dass alle Menschen gleich leben und handeln, bedeutet, alle Menschen zur gleichen Form und zum gleichen Aussehen zu verwandeln - und was würde dann geschehen? Die Welt würde sehr uninteressant werden. Es wäre, als würde man alle Tasten des Klaviers auf dieselbe Note stimmen. Es ist nicht nötig, die Töne des Klaviers zu verändern. Nötig ist es, den Weg der Harmonie zu kennen, zu wissen, wie man Harmonie zwischen den verschiedenen Tönen schafft.

Der dritte Aspekt der Religion ist das religiöse Ideal, der Herr und Meister der Religion, der Herr und Meister, den die Seele als das Ideal wertschätzt. Das ist etwas, worüber man nicht diskutieren oder streiten kann. Je weniger darüber gesprochen wird, desto besser ist es. Die Hingabe eines aufrichtigen Herzens bringt das Ideal hervor, das zu heilig ist, um darüber zu sprechen - ein Ideal, das man weder vergleichen noch erklären kann.

Wenn die Anhänger verschiedener Religionen über ihre Ideale diskutieren - die heiligen Ideale, die sie nicht selbst gekannt haben, sondern die ihnen nur überliefert wurden - und beweisen wollen, dass eines besser als das andere sei, dann verlieren sie nur Zeit und zerstören das heilige Gefühl, das nur im Herzen bewahrt werden kann. Das religiöse Ideal ist das Mittel, durch das man sich zur Vollkommenheit erhebt. Welchen Namen ein Mensch auch immer seinem Ideal gibt, dieser Name ist äußerst heilig für ihn. Aber das bedeutet nicht, dass der Name das Ideal eingrenzt. Es gibt nur ein Ideal, das göttliche Ideal. Nenne es Christus, und lasse denselben Christus unter verschiedenen Namen bekannt sein, die ihm von unterschiedlichen Gemeinschaften gegeben werden.

Ein Mensch zum Beispiel, der eine große Hingabe, Liebe und Zuneigung zu seinem Freund hegt, spricht über Freundschaft in begeisterten Worten und sagt, wie heilig es ist, Freundschaft zu schließen. Aber dann gibt es da einen anderen, der sagt: "Oh, ich kenne deinen Freund; er ist auch nicht besser als jeder andere." - Die Antwort darauf gibt Majnun in einer Geschichte, die von den Alten überliefert wurde. Jemand sagte zu Majnun: "Deine Geliebte Leila ist nicht so schön wie du meinst." Er antwortete: "Meine Leila muss man mit meinen Augen betrachten. Wenn du sehen willst, wie schön Leila ist, musst du dir meine Augen leihen." Wenn man daher das Objekt der Verehrung welcher Glaubensrichtung, welcher Gemeinschaft oder welches Volkes auch immer betrachten möchte, muss man sich deren Augen leihen, und man muss sich ihr Herz leihen. Es hat keinen Sinn, über die geschichtlichen Einzelheiten jeder Tradition zu diskutieren; sie sind aus Vorurteil entstanden. Andacht ist eine Sache des Herzens, und der Gläubige selbst erzeugt sie.

Der vierte Aspekt der Religion ist die Gottesidee. Darüber wird es immer Auseinandersetzungen und Diskussionen geben: "In unserer Familie haben wir einen ganz anderen Gott als in eurer." Solche Streitigkeiten hat es immer gegeben. In alten Zeiten gab es Streit, als die Kinder Israels verkündeten, dass ihr Gott ein ganz besonderer Gott sei. So machte jede Gemeinschaft und jede Kirche ihren Gott ebenso zu einem besonderen Gott. Wenn man überhaupt von einem besonderen Gott sprechen will, dann ist es nicht der Gott irgendeiner Gemeinschaft, sondern der Gott jedes einzelnen Menschen. Denn jeder Mensch muss sich zuerst seinen eigenen Gott erschaffen, bevor er den wirklichen Gott erkennen kann. Jener Gott aber, den der Mensch in seinem Inneren erschaffen hat, wird schließlich zur Tür, durch die er in das Heiligtum seines innersten Seins gelangt, zum wahren und wirklichen Gott, der im Herzen des Menschen zu finden ist. Und dann leuchtet die Erkenntnis auf, dass Gott nicht der Gott einer besonderen Gemeinschaft oder eines bestimmten Volkes ist, sondern der Gott des ganzen Daseins.

Nun kommen wir zu jenem Aspekt der Religion, der weder Gesetz noch Ritual, weder höchstes Ideal noch Gott betrifft, sondern unabhängig von diesen vier Aspekten besteht. Es ist etwas Lebendiges in der Seele des Menschen, in seinem Geist und in seinem Herzen. Wenn es fehlt, dann ist es, wie wenn dieser Mensch tot ist; wenn es aber da ist, schenkt es ihm Leben. Wenn es überhaupt eine Religion gibt, dann ist sie hier zu finden. Es ist das, was die Hindus "Dharma" genannt haben, was gewöhnlich mit Pflicht übersetzt wird. In Wirklichkeit ist es aber etwas viel Großartigeres als das, was wir in unserem täglichen Leben als Pflicht bezeichnen. Ich nenne es nicht Pflicht, sondern vielmehr das Leben selbst.

Wenn jemand aufmerksam ist und sich rücksichtsvoll verhält, wenn er seine Verpflichtungen gegenüber dem Mitmenschen wahrnimmt, gegenüber dem Freund, gegenüber Vater und Mutter und allen, zu denen er in Beziehung steht, dann ist das etwas wirklich Lebendiges. Es ist wie Wasser, das eine Empfindung von der lebendigen Seele gibt; die Seele ist nicht tot. Diese lebendige Seele macht einen Menschen erst wirklich lebendig.

Eine Person, die sich dieser Zartheit und Heiligkeit des Lebens nicht bewusst ist, mag leben, aber ihre Seele verbleibt im Grab. Einen Menschen mit lebendiger Seele aber braucht man nicht zu fragen, welcher Religion oder Glaubensrichtung er angehört, denn er lebt sie. Das Leben selbst ist seine Religion, und das ist die wahre Religion. Wenn ein Mensch sich seiner Ehre bewusst ist, wenn sein Schamgefühl intakt ist und er aufrichtig und echt empfinden kann, wenn er lebendige Zuneigung und Hingabe kennt, dann ist er lebendig, dann ist er religiös.

Diese Religion war die der Vergangenheit, und sie wird die Religion der Zukunft sein. Jede Religion bisher, ob sie von Christus oder einem anderen großen Wesen verkündet worden ist, ist den Menschen gegeben worden, damit in ihnen jene Empfindung erweckt wird, die immer dann entsteht, wenn diese Religion zum Leben erwacht. Es ist dann nicht wichtig, an welchem Ort wir unser Gebet sprechen, weil jeder Augenblick unseres Lebens zur Ausübung unserer Religion geworden ist, einer Religion, an die man nicht glaubt, sondern die man lebt.

Was ist die Botschaft des Sufismus? Der Sufismus zeigt, wie man das dem Wasser gleichende Leben, das unter den Eindrücken dieses materiellen Lebens begraben worden ist, wieder freischaufelt. Im Englischen gibt es die Redewendung von der "verlorenen Seele". Aber die Seele ist nicht verlorengegangen, sie ist nur begraben. Wenn man sie wieder ausgräbt, strömt göttliches Leben hervor wie eine frische Quelle.

Was ist dann mit 'ausgraben' gemeint, und was ist es, das wir in uns ausgraben wollen? Die Wahrheit ist doch, wie auch in den heiligen Schriften ausgesagt wird, dass Gott die Liebe ist. Wo werden wir Ihn also finden: im siebenten Himmel oder im Menschenherzen? Er wird im Herzen des Menschen gefunden; dort ist Sein Heiligtum. Wenn aber das Herz zugeschüttet ist, wenn es das Licht, das Leben und die Wärme verloren hat, dann wird es zu einem Grab. In einem englischen Volkslied gibt es eine bewegende Zeile: "Das Licht eines ganzen Lebens verlöscht, wenn die Liebe vergeht." Das wirklich Lebendige im Herzen ist die Liebe. Sie wird erfahrbar als Güte, als Freundschaft, als Zuneigung, als Toleranz und als Bereitschaft, zu vergeben; gleich, in welcher Form dieses lebendige Wasser aus dem Herzen hervorströmt,- es erweist das Herz als eine göttliche Quelle. Wenn diese Quelle erst einmal offengelegt ist und aufsteigt, dann wird jede Handlung, jedes Wort, jedes Gefühl eines Menschen zu einer Lebensäußerung von Religion; dann wird der Mensch religiös.

Wenn überhaupt eine neue Religion kommen wird, wird es diese Religion sein, die Religion des Herzens. Nach all den furchtbaren Leiden, die der letzte große Krieg über die Menschheit gebracht hat, fangen die Menschen allmählich an, ihre Augen zu öffnen. Im Laufe der Zeit werden sie ihre Augen ganz weit auftun und dann endlich wissen und verstehen, dass die wahre Religion nichts anderes ist, als das Herz ganz offen und den Blick ganz weit werden zu lassen und diese eine Religion dann zu leben.



zurück
Impressum